Hochdeutsche Israelitengemeinde zu Altona (HIG)
Die Vorgeschichte der Jüdischen Gemeinde Altona beginnt im 16. Jahrhundert mit der Gewährung von Partikular-, später Generalgeleiten, die an niederlassungswillige Juden vom jeweiligen Landesherrn (bis 1640 die Grafen von Holstein Schauenburg, danach bis 1842 die dänische Krone) erteilt wurden. Durch sie wurde Aufenthaltsrecht, Religionsausübung, Erwerbstätigkeit und landesherrlicher Schutz gegen die Entrichtung von Schutzgeld und die Verpflichtung von Wohlverhalten gewährt (→ Privilegien).
Vom Beginn ihrer Niederlassung in Altona an bis 1842 waren die Altonaer Aschkenasen Schutzjuden. 1611 waren vier jüdische Familien in Altona zugelassen, in den folgenden Jahren kamen weitere hinzu. 1641 wurde das erste dänische Privileg von Christian IV. erteilt. Es gab keine festgelegte Obergrenze für die Zahl der zugelassenen Haushalte und keinerlei Vorschriften hinsichtlich des Grunderwerbs. Das Recht auf Religionsfreiheit enthielt die öffentliche Religionsausübung – den Synagogenbau eingeschlossen – und eine vom Schutzherrn gewährte Schutzzusage. Zusätzlich zu den vergleichsweise gut ausgestatteten Privilegien, war Altona auch durch seine Nähe zu Hamburg, das einerseits als prosperierender Wirtschaftsplatz und andererseits als Fluchtpunkt galt, von besonderer Anziehungskraft. Die Privilegien wurden bis in das 19. Jahrhundert regelmäßig verlängert und endeten 1842 mit einer königlichen Resolution, durch die Schutzverwandtschaft und Schutzgeldpflichtigkeit abgeschafft wurden und den deutschen Juden in Altona das Bürgerrecht gewährt wurde. Mit dem »Gesetz betreffend die Verhältnisse der Juden im Herzogtum Holstein« vom 14. Juli 1863 wurde dann die bürgerliche Gleichstellung erreicht. Neben der Gewährung staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten waren die Abschaffung der jüdischen → Gerichtsbarkeit und die Unterstellung der Juden unter die allgemeine Gerichtsbarkeit von entscheidender Bedeutung. Eine Ausnahme galt hinsichtlich der Beibehaltung von Eheschließung und Scheidung nach jüdischem Recht, sofern sie nicht den allgemeinen Vorschriften zuwiderliefen. Darüber hinaus regelte das Gesetz die Religions- und Gemeindeverfassung wie auch das Schul- und Armenwesen der Juden in Holstein. Nach dem dänisch-preußischen Krieg wurden Schleswig und Holstein 1867 Preußen angegliedert.
Die Gründung der Gemeinde mit Gemeindevorstand, Rabbiner, Vorbeter und Gemeindediener erfolgte 1611, zusammen mit dem Erwerb eines Friedhofsgrundstücks (100) (→ Friedhof) und der ersten auf diesem Gelände stattfindenden Beerdigung. Die Gemeinde entwickelte sich stetig, insbesondere unter dänischer Herrschaft, sie erreichte eine Gleichstellung mit den portugiesischen Juden, das Jurisdiktionsprivileg sowie die Etablierung des Altonaer Oberrabbiners als Richter und geistliches Oberhaupt der aschkenasischen Juden in Schleswig und Holstein (→ Rabbinat). (1780: 1.911 Gemeindemitglieder) Im Jahr 1671 wurden auch die Hamburger Juden der Jurisdiktion des Altonaer Oberrabbiners unterstellt. Im Gemeindeverband AHW (→ Dreigemeinde) beanspruchte die Altonaer Gemeinde zunächst aufgrund ihrer Größe und vergleichsweise gut entwickelten organisatorischen Struktur, ferner als Sitz des Jüdischen Gerichts sowie aufgrund ihres überregionalen Rufs als Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit, die Führung. Das wirtschaftliche Übergewicht der Altonaer Gemeinde sollte sich allerdings Ende des 18. Jahrhunderts bereits zugunsten Hamburgs verschieben, als immer mehr Gemeindemitglieder in Hamburg ansässig wurden. Bedeutsam wurde dies, nachdem sie die Mehrheit der wohlhabenden Gemeindemitglieder ausmachten und Ende des 18. Jahrhunderts bereits den größten Teil des Steueraufkommens der Gemeinde aufbrachten. Die Problematik kam u. a. deutlich in der Auseinandersetzung um die Auflösung des Gemeindeverbandes und der Gründung dreier voneinander unabhängiger Territorialgemeinden im Jahr 1812 zum Ausdruck. Mit der Auflösung des Dreigemeindeverbandes ging die Vorherrschaft der Altonaer Gemeinde zu Ende. Sie entwickelte sich demographisch kaum noch (seit 1780 war die Zahl der Juden in Altona konstant geblieben; 1840: 2.100, 1867: 2.359, 1890: 2.070) und geriet im 20. Jahrhundert in Abhängigkeit von der → Deutsch-Israelitischen Gemeinde Hamburg. Seit 1880 erfolgte, ausgelöst von Pogromen, ein Zuzug osteuropäischer Juden (→ »Ostjuden«), die von der Gemeinde versorgt werden mussten. Dieser Anforderung war die Gemeinde in der Folgezeit materiell nicht mehr gewachsen. Das Gemeindestatut von 1894/95 schuf einerseits eine moderne Gemeindeverwaltung, wie sie von zahlreichen Gemeindemitgliedern schon lange gefordert worden war. Sie etablierte aber zugleich einen weitreichenden Einfluss kommunaler und staatlicher Stellen. Im 20. Jahrhundert wurde die Gemeinde als öffentlich-rechtliche Körperschaft anerkannt. In der HIG war die Finanzlage, vor allem nach dem Ersten Weltkrieg, sehr schwierig. Der Haushalt wurde in erster Linie durch die hohen Fürsorgekosten belastet. Für größere Bau- und Renovierungsvorhaben wurden mit staatlicher Genehmigung Hypotheken aufgenommen. Zu Beginn der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts war die Gemeinde schließlich auf die Hilfe der Hamburger Gemeinde angewiesen. Hintergrund für diese Entwicklung war der hohe Anteil an ostjüdischen Mitgliedern, deren Unterstützung zunächst vor allem vom → Israelitisch-Humanitären Frauenverein zu Altona organisiert wurde. In Verhandlungen mit Gemeinde und Staat konnte der Frauenverein eine Aufteilung der erforderlichen Sozialkosten erreichen. Zudem existierten eigene kostenintensive Gemeindeeinrichtungen, wie z. B. die jüdische Schule. Aufklärung und Emanzipation hatten bereits im 19. Jahrhundert zu einer Lockerung der Bindung an die Gemeinde als Pflichtverband geführt. Jüdische Neuzuwanderer ließen sich oft nieder, ohne die Mitgliedschaft zu erhalten. Zugleich genoss die HIG den Ruf einer zutiefst orthodoxen Gemeinde, denn Liberalisierung und Reformbewegung fanden in Altona mehrheitlich keine Anhänger. In der Amtszeit des Oberrabbiners → Maier Lerner (1894-1925) wurde diese Tradition mit der Ablehnung des Frauenwahlrechts und dem Verbot der Aschenurnenbeisetzung fortgesetzt. Sein Nachfolger, Oberrabbiner → Joseph Carlebach, unterhielt zwar ein orthodoxes Lehrhaus, vertrat aber in zahlreichen Bereichen weniger strenge Positionen. Zugleich war es z. B. 1921 nur noch selten möglich, einen Minjan zum Frühgebet zu erreichen, d. h., 10 männliche Gemeindemitglieder zu versammeln. 1925 stellten die Altonaer Juden 1,3 Prozent der Gesamtbevölkerung, 1933 verzeichnete die amtliche Statistik 0,83 Prozent »Glaubensjuden«. Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten sahen sich viele Altonaer Juden gezwungen auszuwandern. 1937 wurde Theodor Weisz zum Altonaer Oberrabbiner gewählt. Zahlreiche Altonaer Juden (aus Hamburg und Altona waren es insgesamt 700) wurden 1938 in der so bezeichneten Polenaktion verhaftet und abgeschoben. Während der → Novemberpogrome wurde die Große Synagoge in der Papagoyenstraße (96) geschändet; sie wurde 1943 in einem Bombenangriff zerstört. Nach dem Pogrom wurde der Altonaer Kultusverband zwangsweise aufgelöst und die Verwaltung auf Anweisung der NS-Aufsichtsbehörde von der Hamburger Gemeinde, dem → Jüdischen Religionsverband Hamburg, übernommen. Nach dem Verbot der Auswanderung 1941 (→ Emigration) wurden die verbliebenen Altonaer Juden mehrheitlich in die Vernichtungslager deportiert (→ Deportation) und dort ermordet.