Carlebach, Joseph Hirsch (Zwi)

Carlebach, Joseph Hirsch

Rabbiner und Pädagoge, geb. 30.1.1883 Lübeck, gest. 26.3.1942 bei Riga

C. war das achte von zwölf Kindern des Rabbiner-Ehepaars Salomon und Esther Carlebach (geb. Adler). Das Vorbild seines Vaters, dessen genaue jüdische Religionspraxis und tiefes religiöses Empfinden, verbunden mit solider jüdischer und umfassender Allgemeinbildung und das fest verankerte Familienleben waren ebenso mitentscheidend für die Charakterbildung C.s wie die verschiedenen Stationen seines eigenen Lebens und Wirkens. Sein sprühender Geist, seine Empfänglichkeit für die Schönheit der Natur und der Kunst, seine Sprachbegabung, durchsetzt mit sprudelndem Humor, ließen ihn zu einer außergewöhnlichen Persönlichkeit heranreifen.

C.s universitäre Studien in Berlin, Leipzig und Heidelberg umfassten in erster Linie Naturwissenschaften und gleichzeitig Kunst und Philosophie. 1910 erschien seine Doktorarbeit über den mittelalterlichen Mathematiker und Religionsphilosophen Gersonides. Die Rabbinats-Autorisation am Berliner Orthodoxen Rabbiner-Seminar erhielt er im Jahre 1914. In den Jahren 1905 bis 1907 unterrichtete er – zum Teil auf Neuhebräisch – als Pionier-Lehrer am jüdischen Lehrerseminar der Lämel-Schule in Jerusalem. Während der Kriegsjahre als Freiwilliger 1915 bis 1919 wurde C. in den Rang eines Offiziers erhoben. Von der deutschen Armee mit Erziehungsaufgaben betraut, diente er als Vermittler deutscher Kultur und Literatur unter der osteuropäischen jüdischen Jugend, für die er in Kowno das »Carlebach-Gymnasium i. E.« errichtete.

Lediglich seine einjährige Tätigkeit als Rabbiner in Lübeck 1920/21 unterbrach die achtzehn Jahre dauernde Lehrtätigkeit, die er mit der reformpädagogisch orientierten Leitung der Hamburger Talmud Tora Realschule (1921-1926) und der innovativen Gründung einer kaufmännischen Jeschiwa (jüdische Fachhochschule) abschloss. Seine sich anschließende Rabbinerlaufbahn führte ihn zunächst für zehn Jahre nach Altona und Schleswig-Holstein, 1936 dann nach Hamburg. In diesen Jahren entstanden wichtige literarische Werke – biblische, pädagogische, mathematische, geschichtliche und philosophische Themen umfassend – und zum Teil auch polemisch mutige Auseinandersetzungen mit aktuellen Zeitfragen. Immer wieder überraschte er seinen Leserkreis mit analysierenden Buchkritiken, in denen er seine umfassende Bildung dokumentierte. Gleichzeitig fand sich ein ungewöhnlich zahlreiches Publikum zu seinen Vorträgen über biblische Themen ein; die Hörer rekrutierten sich aus allen jüdischen und bis Ende 1935 auch aus nichtjüdischen Kreisen.

Während der letzten fünf Jahre, unter dem sich stets steigernden antijüdischen Druck der NS-Herrschaft, wirkte C. weit über Hamburg hinaus, bis er im Dezember 1941 gemeinsam mit seiner Familie und Teilen seiner Gemeinde deportiert wurde.

Im KZ Jungfernhof bei Riga hatte er seinen letzten Wirkungskreis: Nach allen erhaltenen Zeugenaussagen blieb er bis zu seiner Ermordung der mitfühlende Seelsorger für Jung und Alt, der ermutigende, tröstende Redner und selbst in den schwersten Situationen ein unvergesslicher Lehrer.

C. war eine komplexe, vielseitige Persönlichkeit, ein kämpferischer, überzeugter stolzer Jude auf allen seinen Wegen, nachsichtig und tolerant in seiner Bruderliebe, immer lehrend, immer kinder- und jugendbegeistert. Sein Weg wurde treu begleitet von seiner Frau Lotte, geb. Preuss, und seinen vier jüngsten Kindern, von denen nur der Sohn Salomon die Schoah überlebte.

Miriam Gillis-Carlebach