Jüdisches Leben zur Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung (1933-1945)

Boykott 1933

Die mit der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 einsetzenden Maßnahmen beschnitten drastisch die Bürgerrechte sowie die Erwerbs-, Bildungs- und Freizeitmöglichkeiten der knapp 19.000 Juden, die im Frühjahr 1933 in Hamburg, Altona und Wandsbek lebten. Der organisierte Boykott am 1. April 1933 und gezielte Ausschreitungen der SA in der Innenstadt ließen keinen Zweifel daran, was den Juden künftig bevorstand.

Die nationalsozialistische Verfolgung, die an Intensität in den kommenden Jahren zunahm, vollzog sich inmitten Hamburgs und oft unter aktiver Beteiligung der Bevölkerung. Je nach Umfeld verstärkten und ergänzten Schikanen aus der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz oder auf der Straße die staatliche Ausgrenzungspolitik. Während Hamburg einerseits einen Zuzug von Juden aus ländlichen Bereichen verzeichnete, die sich Freiräume in der großstädtischen Anonymität erhofften, verließen andererseits immer mehr Mitglieder der Gemeinde die Stadt, um zu emigrieren, wenngleich die Auswandererquote bis zum Novemberpogrom unter dem Reichsdurchschnitt lag. ( Emigration)

Der so genannte Arierparagraph, der den Nachweis »arischer«, d. h. nichtjüdischer Abstammung verlangte, bedeutete für viele Menschen Berufsverbot. Beamte, Richter, Professoren, Rechtsanwälte, Ärzte, Apotheker, Journalisten und Schauspieler wurden beurlaubt, später entlassen oder verloren ihre Zulassungen. Gewerbetreibende wurden von dem Vergabewesen der öffentlichen Hand ausgeschlossen. Nichtjüdische Unternehmen entließen bereits jüdische Angestellte. Damit begann eine strukturelle Verarmung der Juden, die sich in den folgenden Jahren noch verstärkte. Im Sommer 1933 wurden alle Juden aus Berufsverbänden und Vereinen, namentlich aus den Hamburger Sportvereinen und Bürgervereinen, ausgeschlossen. Juden galten öffentlich als »unerwünscht«, auch in Hotels und Gaststätten. Jüdische Schüler wurden zunehmend aus staatlichen Schulen verdrängt. Die gleichgeschalteten Tageszeitungen diffamierten Juden.

Die Diskriminierungen zeigten alsbald erhebliche wirtschaftliche Folgen. Immerhin konnte die gut organisierte Deutsch-Israelitische Gemeinde die Auswirkungen für den Alltag in den ersten Jahren durch gezielte Maßnahmen der Berufsumschichtung ( Hachschara) und der Sozialfürsorge mildern. Eine Beratungsstelle der Gemeinde für jüdische Wirtschaftshilfe, ergänzt durch eine qualifizierte Beratung der Berufsausbildung, durch Wirtschaftsfürsorge und Darlehensgewährung, glich zunächst mit gewissem Erfolg wirtschaftliche Nachteile im gewerblich-kaufmännischen und handwerklichen Bereich aus. Die Gemeinde unterhielt eigene Lehrwerkstätten und Haushaltungsschulen. Der Tendenz zur Verarmung begegnete sie mit Appellen an die innerjüdische Solidarität. So sollten über die Jüdische Wirtschaftshilfe und Solidaritätsaufrufe wie »Unterstützt die jüdischen Handwerker« jüdische Betriebe gestärkt werden; jüdische Arbeitgeber wurden aufgefordert, entlassene jüdische Lohnabhängige einzustellen; das Jüdische Winterhilfswerk sammelte für die Armen. Eine zunehmende soziale und ökonomische Ghettoisierung konnte die Gemeinde indes nicht verhindern. Als der Gemeinde seit Februar 1937 jede Arbeitsvermittlung untersagt war, musste sie sich auf informelle Hinweise beschränken. Berufliche Fähigkeiten dienten, insbesondere bei Jugendlichen, mehr und mehr dazu, sich für eine Auswanderung zu qualifizieren, so etwa bei einer Emigration nach Palästina.

Eine wichtige Änderung im Alltagsleben der Juden stellten die so genannten Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935 dar. Als Jude wurde nun definiert, wer von mindestens drei »der Rasse nach volljüdischen« Großeltern abstammte. Als »Geltungsjude« galt auch, wer nur zwei »volljüdische« Großeltern hatte, jedoch einer jüdischen Religionsgemeinschaft angehörte oder angehört hatte oder mit einem Juden verheiratet war oder gewesen war. Juden verloren das Stimmrecht in öffentlichen Angelegenheiten, blieben aber zunächst deutsche Staatsangehörige. Zwischen Juden und Nichtjuden bestand das Verbot der Eheschließung und außerehelicher sexueller Beziehungen. Verstöße wurden als »Rassenschande« hart bestraft. Diese Apartheidspolitik verstärkte die soziale und kulturelle Separation. Von dieser Situation ausgehend, entwickelten nicht nur die Hamburger Juden vielgestaltige Versuche, der Ausgrenzung und Isolierung individuelle und kollektive Formen der Selbstorganisation entgegenzusetzen, die die jüdische Identität stärken oder auch nur Ablenkung von der bedrückenden Situation ermöglichen sollten. Eigene Schulen, Sport- und Kulturvereine, die teilweise schon länger existierten, erhielten Zulauf. Angesichts des Verbotes, kulturelle Veranstaltungen zu besuchen, offerierte der Jüdische Kulturbund im Convent Garten und später im Gemeinschaftshaus in der Hartungstraße (92) Vorträge, Filme oder Theaterstücke von jüdischen Künstlern und vertrieb auch Bücher. Nicht nur die jüdischen Familien verarmten durch die massive Verschlechterung der ökonomischen Situation, auch die Gemeinde verlor damit laufend an gemeindlichem Steueraufkommen. Die Emigration der jüngeren Generation und auch der noch vermögenden Gemeindemitglieder tat ein Übriges. Dies prägte seit den Jahren 1937 und 1938 verstärkt das Alltagsleben der Gemeinde. Sie musste trotz starken Rückgangs der eigenen Steuerkraft in immer stärkerem Maße Schul- und Wohlfahrtslasten auf sich nehmen, ohne staatliche Zuschüsse zu erhalten. Die Jüdische Winterhilfe konnte dies nur begrenzt ausgleichen.

Titelblatt einer Broschüre, Februar 1935Um der äußeren Bedrohung entgegentreten zu können, begruben die vor 1933 zerstrittenen Gruppierungen innerhalb der Jüdischen Gemeinde ihre Differenzen. Zudem nutzte die Deutsch-Israelitische Gemeinde Hamburgs die nach dem Groß-Hamburg-Gesetz von 1937 angeordnete Fusion der jüdischen Gemeinden in Hamburg, Wandsbek, Harburg-Wilhelmsburg und Altona unter dem Namen »Jüdischer Religionsverband Hamburg e.V.«, die Ressourcen zu bündeln. Der Religionsverband existierte bis November 1942. Dann wurde er der seit 1939 parallel existierenden Bezirksstelle Nordwestdeutschland der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland eingegliedert. Die Bezirksstelle unterstand der Hamburger Gestapo. Der Gemeinde resp. dem Religionsverband fielen immer neue Aufgaben zu. So benötigte sie nicht nur mehr Personal (dies wurde von 30 auf über 100 Angestellte aufgestockt), sondern ihr Leiter und die Mitarbeiter mussten auch immer erfindungsreicher werden, um die Einhaltung jüdischer Gesetze wie beispielsweise die Speisegebote zu ermöglichen. Das schon im April 1933 erlassene Schächtverbot konnte beispielsweise kurzzeitig umgangen werden, indem Vorräte im Kühlhaus gelagert, später Fleisch aus Dänemark importiert wurde und heimlich weiterhin Geflügel geschächtet wurde. Als nach Kriegsbeginn die Lebensmittelzuteilungen die Ernährung für Juden verschlechterten, bestritt der Vorsitzende des Religionsverbandes Max Plaut Einkäufe von Fleisch, Zucker, Fett, Milch, Gemüse und Eiern auf dem Schwarzmarkt aus einer schwarzen Kasse.

Im Frühjahr und Sommer 1938 nahmen die wirtschaftlichen Restriktionen zu, d. h., Vermögen wurden anmeldepflichtig, später gesperrt und scheinlegale »Arisierungen« durchgeführt. Im Oktober 1938 wurden etwa 1.000 »Ostjuden« verhaftet und nach Polen abgeschoben. Bereits im Juli 1938 verloren alle 195 jüdischen Ärzte ihre Approbation; nur 14 von ihnen durften, vorwiegend im Israelitischen Krankenhaus, als sog. Krankenbehandler weiterhin praktizieren. Im August des Jahres mussten alle Juden den zusätzlichen Vornamen »Israel« oder »Sara« annehmen. Die Verhaftungswelle im Anschluss an den Novemberpogrom 1938 betraf über 1.000 Männer, die wochen- bzw. monatelang im KZ Sachsenhausen interniert wurden.

Das Leben der Juden veränderte sich infolge des Pogroms noch einmal grundlegend. Einzelhandelsgeschäfte, Handwerksbetriebe und Versandgeschäfte mussten »arisiert« werden. Die Zahl der so genannten Konsulenten, wie die jüdischen Rechtsanwälte sich nennen mussten, betrug seit Anfang 1939 noch 12, wenig später nur 7. Die Auflösung der jüdischen Vereine wurde angeordnet, die Kultusverbände hatten ihre Tätigkeit einzustellen. Das öffentliche religiöse Leben kam vorübergehend zum Erliegen. Die Große Synagoge Bornplatz (50) wurde abgebrochen, der Tempel in der Oberstraße (53) aufgegeben, die Synagogen in Altona, Wandsbek und Harburg geschlossen, der Ottensener Friedhof (101) durch Bunkerbau weitgehend zerstört. Im April 1939 verloren Juden den rechtlichen Schutz als Mieter, 1941 musste die Gemeinde »Judenhäuser« einrichten. Juden konnten nur noch jüdische Schulen besuchen. Bis Ende November 1941 versorgte eine Mittelstandsküche im Heim Innocentiastraße 21 ca. 40 Personen, eine Volksküche in der Schäferkampsallee 27 (64) gab 1941 ca. 73.000 Portionen aus. Im Gemeinschaftshaus in der Hartungstraße 9 bot nicht nur der Kulturbund Unterhaltungsmöglichkeiten, sondern dort trafen sich auch Skatrunden und – als Nachfolge der aufgelösten Volksküche – bot nun ein Restaurant hier ein Mittagsmahl an. Schon lange konnte die Gemeinde über ihre Finanzen nicht mehr frei verfügen. Für Kultusaufgaben beispielsweise durfte kaum Geld aufgewendet werden. Das Bestattungswesen hatte Vorrang, anderes musste auf privater Spendenbasis geschehen oder ehrenamtlich ausgeführt werden. Nach 1939 fanden Gottesdienste im Büro der Gemeinde Beneckestraße 4/6 (47), zeitweise in einem Saal in der Hartungstraße und bis Anfang 1942 dann in der kleinen Synagoge im Hause Kielortallee 22/24 (81) statt, bis religiöse Zusammenkünfte verboten wurden. Zwei Kinderheime und ein Kindertagesheim mussten aufgelöst werden. Damit jüdische Kinder und Jugendliche die Möglichkeit hatten, an die frische Luft zu kommen, wurde je ein gräberfreies Feld auf den Friedhöfen Langenfelde (103) und Ohlsdorf als Spielwiese und Sportplatz zur Verfügung gestellt.

Dies alles erhöhte den Druck zur Auswanderung. Die aus dem KZ Entlassenen flohen, wenn irgend möglich, ins Ausland und überließen notgedrungen ihre Habe den »Ariseuren« und dem Deutschen Reich. Circa. 1.000 Kinder konnten mit Kindertransporten nach England in Sicherheit gebracht werden. Im Oktober 1941, als die Auswanderung verboten wurde, zählte die Hamburger Gemeinde noch 7.547 Mitglieder. Während des Krieges und vor allem, als Luftangriffe den Hamburger Wohnraum dezimierten, wurde die staatlich kontrollierte Belegungspolitik der »Judenhäuser« immer restriktiver. Nach den Großangriffen im Sommer 1943, die auch jüdische Hamburger hatte obdachlos werden lassen, sollten 400 Zimmer von jüdischen Mietern freigemacht und die Betroffenen nördlich und westlich des Grindelgebiets konzentriert werden. Mehr als 350 Juden nutzten die Luftangriffe zur Flucht aus der Stadt.

Nächtliche Ausgangssperren, der Kennzeichnungszwang für Personen und Wohnungen und das Verbot, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, bewirkten während des Krieges eine weitere Verschlechterung der Situation. Nur beim Religionsverband resp. der Bezirksstelle konnten Juden Informationen über antijüdische Maßnahmen oder den Verbleib verschwundener Personen erhalten. Bei vermeintlichen oder tatsächlichen Übertretungen verhaftete die Gestapo eine bisher nicht bekannte Zahl Juden als »Schutzhäftlinge«, die im KZ Fuhlsbüttel misshandelt und von denen einige zu Tode gefoltert wurden.

Seit 1940/41 wurden alle arbeitsfähigen Jüdinnen und Juden zum »Arbeitseinsatz« gezwungen. Alternativ konnte der Religionsverband Juden für seine Einrichtungen reklamieren. So arbeiteten beispielsweise 15 jüdische Rechtsanwälte auf dem Jüdischen Friedhof, denen die ungewohnte körperliche Arbeit erspart werden sollte. Im Oktober 1941 dann wurde die Auswanderung untersagt. Juden wurde verboten, über ihr bewegliches Vermögen zu verfügen, insbesondere Möbel, Hausgeräte oder Wertpapiere zu veräußern oder Guthaben aufzulösen. Seit dem 15. September 1941 hatten »Volljuden« in der Öffentlichkeit als Kennzeichnung einen »Stern« zu tragen. Die Jüdische Gemeinde musste zudem die 17 Deportationen aus der Hansestadt vorbereiten, Sammellager einrichten und – ab Sommer 1942, als die Transporte in das vorgebliche Altersghetto und »Vorzugslager« Theresienstadt begannen – auch die Abwicklung der »Heimeinkaufsverträge« übernehmen. Die Transporte wurden mit Geräten und Maschinen, teilweise ganzen Werkstatteinrichtungen ausgerüstet, die vor 1938 zur Berufsausbildung gedient hatten. Ende 1941 betrug die Zahl der Juden im Sinne der Nürnberger Gesetze aufgrund der Deportationen nur noch 4.051, davon lebten 1.290 in Mischehe oder hatten in Mischehen gelebt, aus denen Kinder hervorgegangen waren. 85 Prozent der Hamburger Juden waren älter als 40 Jahre, 55 Prozent älter als 60 Jahre.

In den Jahren bis 1945 versuchten die jüdischen Repräsentanten, die Deportierten mit Päckchen und Geldanweisungen zu unterstützen bzw. durch die Sendungen wenigstens festzustellen, ob diese noch am Leben waren und wo sie sich befanden. Nachdem ein Großteil der Hamburger Juden bis Ende 1942 deportiert worden und Grundstücke und Gebäude der ehemaligen Gemeinde der Stadt Hamburg in einem Sammelkaufvertrag übereignet worden waren, musste die Bezirksstelle der Reichsvereinigung nun auch ihre Vermögenswerte liquidieren; dem Deutschen Reich kamen 58 Millionen Reichsmark zugute. Im Juni 1943 wurde die Reichsvereinigung formal aufgelöst. Eine Rest-Organisation sollte die Angelegenheiten der in Mischehe Lebenden bearbeiten. Vertrauensmann Martin Heinrich Corten und sein Büroleiter Max Heinemann waren dafür verantwortlich, dass alle Mitglieder (vor allem nach den Luftangriffen im Sommer 1943) erfasst wurden, aufgelöste Mischehen zwecks Deportation des jüdischen Partners gemeldet und weiterer Wohnraum zugunsten nichtjüdischer Ausgebombter freigemacht wurde. Sie waren gezwungen, die Anweisungen der Gestapo weiterzugeben, und fungierten als eine Art Clearingstelle für alle Anliegen, die Juden an Behörden richten wollten, unabhängig davon, ob es um die Zuteilung neuer Strümpfe oder um die Rückstellung von der Deportation ging. Im April 1945 verzeichnete der Vertrauensmann 647 Hamburger Juden, fast alle in Mischehen verheiratet. Weitere 50 bis 80 Personen hatten Verfolgung und Krieg im Versteck oder unter falscher Identität überlebt.

Jörg Berkemann / Beate Meyer