Grindelviertel

Zwischen 1870 und 1930 verlagerte sich das Hauptwohngebiet der jüdischen Bevölkerung Hamburgs aus der engen Alt- und Neustadt, wo 1871 noch drei Viertel aller Hamburger Juden ansässig waren, zunächst nach Harvestehude, Rotherbaum und Eppendorf, später vor allem in die beiden Gebiete vor dem Dammtor. Um 1900 hatten sich in Rotherbaum und in Harvestehude ca. 40 Prozent aller im städtischen Teil Hamburgs lebenden Juden angesiedelt. Die Stadtteilkonzentration erreichte 1925 ihren Höhepunkt.

Während der Prozentsatz der Juden an der Gesamtbevölkerung bei nur 1,72 Prozent lag, erreichte er in Rotherbaum mit 15,23 Prozent und in Harvestehude mit 15,89 Prozent eine beträchtliche Höhe. Die zweifache Binnenmigration in die »besseren« Wohnquartiere war Ausdruck des wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs der Hamburger Juden seit der Emanzipation. Im Gegensatz zu Harvestehude und den alsternahen Teilen Rotherbaums, den bevorzugten Wohngebieten der (z. T. der Oberschicht angehörenden) liberalen und assimilierten Juden, besaß der im Wesentlichen zu Rotherbaum gehörende Grindel, das Gebiet zwischen Bundesstraße, Hallerstraße, Rothenbaumchaussee und Moorweidenstraße, als Wohnquartier des meist im Kleinhandel und Gewerbe tätigen orthodoxen Kleinbürgertums eine jüdisch geprägte Atmosphäre. Infolge der innerstädtischen Migration entstand hier eine dichte Infrastruktur von jüdischen Bildungs-, Kultur- und Sozialeinrichtungen sowie koscheren Lebensmittelgeschäften und hebräischen Buchhandlungen, die dem Viertel im Volksmund den Beinamen »Klein-Jerusalem« eintrug. Zum Milieu orthodoxer Religiosität und Gelehrsamkeit um das Doppelzentrum des Viertels, Bornplatz-Synagoge (50) und Talmud Tora Realschule (91), gehörten auch die Israelitische Höhere Töchterschule (48) und die Jeschiwa mit der Synagoge des ostjüdischen Vereins »Adas Jeschorim« in der Bieberstraße (61) (später Kielortallee (56)) sowie das Gartenhaus des Lernvereins »Mekor Chajim« (52) am Grindelhof. Die Synagoge der sefardischen Gemeinde ( Portugiesisch-Jüd. Gemeinden) wurde als letzter neuer Versammlungsraum 1935 in einer Villa in der Innocentiastraße (54) eingeweiht. Am Rande des G.s lagen auch das Lyzeum (später Realschule) (90) von Jakob Loewenberg in der Johnsallee und der erst 1930/31 errichtete neue Tempel des liberalen Tempelverbandes (53) in der Oberstraße. Mittelpunkt des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens war das Haus der Henry Jones-Loge in der Hartungstraße (92) ( Logenwesen). Das Israelitische Waisenhaus Paulinenstift (68), zahlreiche Wohnstifte, das Hamburgische Deutsch-Israelitische Waiseninstitut für Knaben am Papendamm (heute Martin-Luther-King-Platz) (67) und das Altenhaus in der Sedanstraße (62) zeugten von jüdischer Wohltätigkeit und der Fürsorgepflicht der Gemeinde. Schauplätze jüdischen kulturellen und intellektuellen Lebens waren auch die Universität, das Curiohaus in der Rothenbaumchaussee und das Café Timpe in der Grindelallee. Das »Mixtum compositum ›jüdisches Leben‹ in einer nichtjüdischen Umwelt« machte das G. zu einem der lebendigsten Stadtteile Hamburgs. In der Wahrnehmung Hamburger Juden schwankte der Grindel zwischen einem »freiwilligen Ghetto Rotherbaum« und einem Quartier, in dem Juden und Nichtjuden »neben- und miteinander« lebten. Der besonders von Nichtjuden retrospektiv kultivierten Vorstellung von einer deutsch-jüdischen Symbiose stehen Berichte von antisemitischen Vorfällen bereits vor 1933 entgegen. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten blieben Hilfe und Solidarität von Nichtjuden auch im G. Ausnahmen, obwohl die schrittweise Entrechtung und Verfolgung gerade hier nicht zu übersehen waren. Die nach der Befreiung neu gegründete Jüdische Gemeinde wurde vom Grindel nach Eimsbüttel verlegt. Das Aufgehen der Beneckestraße im Campus der Universität, die Umbenennung des Bornplatzes in Allendeplatz, die langjährige Nutzung des Grundstücks der Bornplatzsynagoge als Parkplatz, die Pläne für seine Überbauung mit Schul- bzw. Universitätsgebäuden, Abrisspläne für die TTR zur Erweiterung des Campus sind Ausdruck der historischen Amnesie nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Zeit der Verdrängung jüdischer Geschichte aus dem kollektiven Gedächtnis der Stadt endete erst Ende der siebziger Jahre. Heute erinnern zahlreiche Gedenktafeln, Mahnmale, der Grundriss der Synagoge auf dem zum Gedenkort umgestalteten Joseph-Carlebach-Platz (50), das Wandbild an der Hochschule für Wirtschaft und Politik sowie eine Vielzahl von Veranstaltungen an die Geschichte der Juden am Grindel. Mit der Gründung der Jüdischen Organisation Norddeutscher Studenten (JONS), Gedenkveranstaltungen und Chanukka-Feiern der jüdischen Gemeinde auf dem Carlebach-Platz und dem geplanten Umbau der TTR zum neuen Gemeindezentrum hat, 60 Jahre nach der Vertreibung der Hamburger Juden, ein neues jüdisches Leben am Grindel begonnen.

Sielke Salomon