Auswanderung

(siehe auch Emigration) In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewann der Hamburger Hafen wachsende Bedeutung für den Transit von Auswanderern nach Übersee.

Zwischen 1850 und 1934 registrierten die Hamburger Behörden annähernd fünf Millionen Auswanderer. Über 80 Prozent gingen in dieser Zeit in die USA, die übrigen hatten Süd- und Mittelamerika, Kanada, Afrika, Australien und asiatische Länder zum Ziel. Zwischen 1881 und 1914 traten nahezu eine Million Juden aus Russland, Österreich-Ungarn und Rumänien die Seereise im Hamburger Hafen an. Den stärksten Anteil hatten jüdische Auswanderer aus den russischen Territorien; ihre Zahl wird mit über 700.000 angegeben. Der Exodus der russischen Juden setzte 1881 mit dem Beginn der Herrschaft von Zar Alexander III. ein, als Pogrome und antijüdische Gesetze eine anhaltende Massenflucht auslösten. Armut und Diskriminierung motivierten auch viele Juden in Galizien und Rumänien zum Verlassen ihrer Heimat. Amerikas Ruf als freiheitliches Land der unbegrenzten Möglichkeiten und die Werbekampagnen der Schifffahrtsgesellschaften taten ein Übriges, um den osteuropäischen Auswandererstrom nicht versiegen zu lassen. Als 1881 rund 10.000 mittellose russische Emigranten eintrafen, reagierte die Hamburger Jüdische Gemeinde mit der Gründung des Hilfskomitees für die russischen Juden. Der 1884 gegründete Israelitische Unterstützungsverein für Obdachlose half den nichtrussischen jüdischen Auswanderern. Daniel Wormser stellte sich ab 1884 ganz in den Dienst der mittellosen jüdischen Emigranten und galt in Hamburg alsbald als »Vater der Auswanderer«. Die Geschichte der Massenauswanderung über den Hamburger Hafen ist zudem untrennbar mit dem Namen Albert Ballin verbunden. Er vergrößerte und modernisierte die Hapag-Flotte der Auswandererschiffe, erwirkte in Verhandlungen mit konkurrierenden Schifffahrtsgesellschaften des In- und Auslands oft einen Interessenausgleich und machte das Unternehmen zur größten Schifffahrtsgesellschaft der Welt. Die Hamburger Regierung nahm gegenüber dem gewaltigen Strom der osteuropäischen Auswanderer eine ambivalente Haltung ein. Der wirtschaftliche Ertrag des Auswandererverkehrs wurde begrüßt, nicht aber die Anwesenheit der zumeist armen Menschen in der Stadt. Hinzu kam die Furcht vor der Einschleppung von Epidemien. 1892 begegnete Ballin den Besorgnissen des Senats mit der Errichtung eines großen Barackenlagers auf dem Amerika-Kai. Die russischen Auswanderer wurden mit der Eisenbahn direkt dorthin gebracht und durften die Stadt nicht betreten. Als im selben Jahr in Hamburg die Cholera ausbrach und rund 10.000 Einwohner an der Epidemie starben, wurde die Auswanderung über den Hafen für längere Zeit unterbunden. Gemeinsam mit dem Bremischen Lloyd ließ Ballin daraufhin an der deutsch-russischen Grenze Kontrollstationen errichten, in denen die eintreffenden Auswanderer ab 1895 ärztlich untersucht, zum Kauf von Schiffsfahrkarten und zur Weiterfahrt nach Hamburg oder Bremen veranlasst wurden. Gänzlich mittellose Menschen durften die Kontrollstationen nicht passieren. An die Stelle des Barackenlagers auf dem Amerika-Kai trat 1901 eine weit größere Massenunterkunft: die sog. Auswandererhallen auf der Veddel. Die Anlage war durch die Süderelbe vom Stadtgebiet getrennt und bot zunächst Platz für 1.000, ab 1906 für 3.000 Personen. Den jüdischen Auswanderern standen eine Synagoge und ein eigener Speisesaal zur Verfügung. Nach 1918 verlor Hamburg als Auswandererhafen stark an Bedeutung; bis 1933 wurden hier noch 500.000 Auswanderer registriert.

Jürgen Sielemann